Gesunder Egoismus: Selbstfürsorge und offene Kommunikation
Auf der einen Seite hast du den Wunsch, dich um deine Bedürfnisse zu kümmern, um das, was dir wichtig ist, um dich selbst. So ein Hunger, dich gut zu nähren. Gut für dich zu sorgen. Für dich selbst einzustehen. Ein bisschen ungewohnt vielleicht, aber du merkst, ja, es tut dir gut! Während du nun genussvolle Momente sammelst, meldet sich dein schlechtes Gewissen: Darfst du das?
Jahrzehntelang warst du – vermutlich recht erfolgreich – darauf trainiert, alle zu versorgen, es allen (möglichst) recht zu machen. Nur wenn es allen gut ging, konntest du mit dir selbst zufrieden sein. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Erst die anderen, dann du. Doch irgendwann, nach all der Fürsorge und dem Dasein für andere, meldete sich erst leise, dann immer lauter deine innere Stimme. Die Stimme deiner eigenen Bedürfnisse und WERTE! Jetzt bist du dran! Während du anfängst, dich damit zu beschäftigen, fragt deine altbekannte, von der Gesellschaft gut trainierte kritische Stimme: Ist das nicht egoistisch?
Egoistisch. Verwerflich!
Doch was ist Egoismus?
Egoismus bedeutet Eigeninteresse, Eigennützigkeit.
Die eigenen Interessen, den eigenen Nutzen wahrzunehmen, zu kennen, und zu wahren, macht grundsätzlich Sinn. Ist weder positiv noch negativ! Die Frage ist, wie dieser Egoismus (aus)gelebt wird.
Negativ gelebter, destruktiver Egoismus
Denkst du bei Egoismus an Ellenbogentechniken und Rücksichtslosigkeit? An Menschen, die anderen um ihres Vorteils willen schaden? Denen es egal ist, wie es anderen geht? Die nur an sich denken? An Menschen, die im Mangel leben und Angst haben, dass nicht genug für sie da ist? Die sich ständig vergleichen. Und aufpassen, dass sie nicht zu kurz kommen. Die glauben, sie müssten fordern, drohen, Druck machen, um das zu bekommen, was ihnen ihrer Meinung nach zusteht. Auch das ist Egoismus. Negativ gelebter, destruktiver Egoismus, mit dem man nicht nur anderen schadet, sondern am Ende auch sich selbst.
Auf diese Art und Weise egoistisch zu sein – das willst du auf gar keinen Fall!
Positiv gelebter, konstruktiver Egoismus
Es gibt auch eine andere Art von Egoismus. Den positiv gelebten, konstruktiven Egoismus!
Positiv gelebter Egoismus heißt:
• Du weißt genau, was deine Bedürfnisse sind, was dir wichtig ist in deinem Leben.
• Du sorgst dafür, dass es dir grundsätzlich gut geht. Dass du stabil bist. Du weißt, wenn das, was dir wichtig ist, gut erfüllt ist, dann bist du voll in deiner Kraft, dann bist du in deiner Stärke!
• Wenn du in deiner Kraft bist, dann fällt es dir auch leicht, von Herzen zu geben. Oder auf andere Rücksicht zu nehmen.
Dazu gebe ich dir gerne Beispiele:
RUHE:
Wenn du gerade sehr erschöpft bist und ein großes Bedürfnis nach RUHE hast, kannst du in angespannten Situationen nicht ruhig bleiben oder anderen, die aufgeregt sind, Ruhe geben. Du hast auch nicht den Nerv, für andere einfühlsam oder sonst wie da zu sein, weil du einfach nur gereizt bist und sonst nichts! Weil du Ruhe brauchst! All diese Gefühle von genervt sein, gereizt sein, müde sein, erschöpft sein, unruhig sein sind nichts anderes als Schreie deines Körpers: Du brauchst RUHE. Kannst du bitte für RUHE sorgen?!
Wenn dein Bedürfnis nach RUHE dagegen gut erfüllt ist und du wahrnimmst: Hui, da ist eine Aufregung, dann fällt es dir leicht, in diesen Situationen ruhig und entspannt zu bleiben. Alles in RUHE anhören, anschauen. Überlegt reagieren. Damit meine ich nicht, dass du anderen etwas wegnimmst, wenn du auf deine RUHE achtest, sondern dass du gut auf dich achtest: in RUHE arbeitest, dir eine Pause gönnst, wenn du sie brauchst, dich gut erholst, dich regelmäßig entspannst. Auf deine persönliche Art und Weise.
Wenn dein Bedürfnis nach RUHE gestillt ist und du merkst, dass jemand einfühlsames Zuhören braucht, dann ermunterst du ihn vielleicht warmherzig: „Erzähl mal“. Du hast die Ruhe, deine Menschlichkeit und kannst gut zuhören.
So ist es auch mit allen anderen Bedürfnissen! Bist du gut gefüllt, kannst du gut geben!
SCHUTZ und SICHERHEIT:
Nicht umsonst heißt es beim Retten: Selbstschutz VOR Fremdschutz. Wenn du dich selbst in Gefahr bringst oder in Gefahr bist und dir etwas passiert, kannst du anderen nicht helfen! Das ist so, wenn jemand im Silo das Bewusstsein verliert, das ist so in allen anderen herausfordernden, angespannten, gefährlichen Situationen im Alltag. Zu Hause, bei der Arbeit. Aus einer sicheren, geschützten Position heraus kannst du, wie ein Fels in der Brandung, besonnen und ruhig für Schutz sorgen und andere in Sicherheit bringen. Sei es physisch oder kommunikativ.
WERTSCHÄTZUNG:
Wenn dein Bedürfnis nach WERTSCHÄTZUNG voll erfüllt ist, dann siehst du alles SchätzensWERTE rund um dich. Es fällt dir auf und es fällt dir leicht, Wertschätzung zu geben und zu zeigen.
EMPATHIE:
Wenn dein Bedürfnis nach EMPATHIE leer ist, wie eine leere Gießkanne, dann kannst du zwar so tun, als gießt du, als gibst du jemandem Empathie. Aber es wird nicht ankommen. Es wird nicht satt machen. Du kannst nicht geben, was du nicht hast! Du brauchst zuerst SELBST-EMPATHIE, Mitgefühl und Verständnis für dich selbst. Wenn du Glück hast, ist jemand an deiner Seite, der dir das gibt. Wenn die Gießkanne mit Wasser gefüllt ist, wenn dein Bedürfnis nach EMPATHIE voll ist, dann kannst du empathisch für andere da sein, ihnen dein Mitgefühl, dein Verständnis geben und sie damit nähren, so wie die Gießkanne Blumen mit Wasser nährt.
Positiv gelebter Egoismus heißt auch: sich abgrenzen.
Die eigenen Grenzen wahrnehmen, kennen, achten, respektieren. Sie bei Bedarf aufzeigen, deutlich machen, dich dafür einsetzen, dich stark machen.
Für dich sorgen, dir Gutes tun: Das kannst du auf wunderbar positive, konstruktive Art und Weise! Dazu ist es wichtig, dass du erst einmal selbst weißt, was du brauchst! Was jetzt deine Bedürfnisse sind. Diese wahrnehmen, ernst nehmen, beachten und nähren. Du nimmst niemanden etwas weg, du tust niemandem weh, wenn du dich hinlegst, wenn du Ruhe gibst. Dir eine Auszeit gönnst. Das ist nicht gegen andere, das ist für dich. Auch nicht, wenn du NEIN zu Wünschen anderer sagst. Weil du für dich sorgst!
Bist du gut versorgt, kannst du leicht in diesem fließenden Geben und Nehmen sein, weil genug da ist! Dann kannst du von Herzen geben!
Positiv gelebter Egoismus bedeutet: Verbunden und frei sein
Bist du dir deiner Bedürfnisse und WERTE bewusst, siehst du klar, was deine eigenen und was die der anderen sind, kannst du situationsgerecht entscheiden: Wird jetzt dringend und wichtig von jemand etwas benötigt, der dir wichtig ist, dann kannst du für dich prüfen: Geht es für dich, kannst und willst du das geben? Jetzt gleich oder etwas später? Oder womöglich nie? Positiv gelebter Egoismus bedeutet also auch: Du berücksichtigst die Bedürfnisse der anderen und beziehst sie in deine Entscheidungen mit ein.
Es geht in deinem Leben immer um dich!
Dein Leben dreht sich um dich! Ja, du bist der Mittelpunkt deiner Welt! Und um dich herum sind alle anderen! Du lebst und handelst aus dir selbst heraus!
Der Ursprung deines Lebens und Handelns sind – unbewusst oder bewusst – deine Bedürfnisse und Werte, deine inneren Motivatoren, deine innere Stimme! Du handelst nach dem, was dir wichtig und richtig erscheint.
„Ich tu es doch nur für andere.“, war womöglich lange deine Prämisse, das, was dir auch gesellschaftlich als wichtig und richtig anerzogen wurde. Wir haben alle die Bedürfnisse nach ZUGEHÖRIGKEIT und ANERKENNUNG. Drum hat das auch so gut funktioniert. Wir woll(t)en dazugehören, Teil sein, anerkannt sein.
Aber ich sage dir noch etwas anderes!
Ja, du tust etwas für andere. Du tust es, weil du es willst. Weil es dir wichtig ist. Du tust, was du willst. Auch wenn es für andere ist! Am Ende tust du alles für dich selbst!
Wie geht es zum Beispiel den Eltern schulpflichtiger Kinder mit dem alljährlich von Mitte September bis Ende Juni prominenten Familiengesellschaftsthema, äh – Drama: „Hausaufgaben machen“?
Du als Elternteil willst, dass deine Kinder ihre Aufgaben ordentlich machen:
• damit sie die Aufgaben in der Schule haben, wenn danach gefragt wird – und es ihnen in der Schule (so) gut (wie möglich) geht.
• damit sie den Stoff lernen und können – und es ihnen in der Schule und später im Leben (so) gut (wie möglich) geht.
• weil es einfach dazu gehört. Wenn sie alles zusammen haben, geht es ihnen in der Schule (so) gut (wie möglich).
Also treibst du deine Kinder womöglich an, damit es ihnen (so) gut (wie möglich) geht. Es geht dir um ihr Wohlbefinden. Um ihre Sicherheit. Du warst ja schon in der Schule. Du kannst das ja schon. Nein, um dich geht es dabei wirklich nicht!
Wirklich nicht? Was hast du davon, wenn sich deine Kinder wohlfühlen? Wenn sie sicher und geschützt sind? Wenn es ihnen (so) gut (als möglich) geht in der Schule?
Ist es nicht so, dass auch du dich WOHL und SICHER fühlst, zumindest in diesem Teil deines Lebens? Dass du EINFACHHEIT, LEICHTIGHEIT, RUHE und FREUDE hast? Weil hier alles funktioniert.
Es ist erstaunlich, genau unter die Lupe zu nehmen, was dir nützt, was du dir erfüllen möchtest, auch wenn du denkst, dass es für andere ist! Für dich erfüllt sich das, was dir persönlich wichtig und WERTvoll ist!
Für die anderen ist es stimmiger, wenn du es nicht so darstellst: „Ich möchte, dass du das so machst, damit es dir gut geht“ und ihnen deine Interessen aufdrängst. Sondern dass du ehrlich sagst, was dir wichtig ist und warum es dir wichtig ist. Fairness bedeutet, dass du dem anderen die Freiheit lässt, deine Bitten, Wünsche und Vorstellungen ganz, teilweise oder gar nicht zu erfüllen. So wie du es für dich selbst auch schätzt.
Positiv gelebter, konstruktiver Egoismus ist also gesunder Egoismus.
Gesunder Egoismus:
• ist Ehrlichkeit dir selbst und anderen gegenüber.
• ist die Befriedigung deiner Bedürfnisse. Mit einem wertschätzenden Blick auf die Menschen, die dir wichtig sind und die du mit deiner Art der Bedürfnisbefriedigung nicht verletzen willst.
• erfordert offene Ehrlichkeit und Klarheit, wenn es zu Überschneidungen mit den Bedürfnissen und WERTEN anderer kommt.
Wenn du also ehrlich zu dir selbst bist:
• Was wünschst du dir mehr in deinem Leben?
• Wem oder was möchtest du mehr Aufmerksamkeit und Zeit schenken?
• Welche Ideen hast du jetzt schon dazu?
Wenn du magst, kannst du mir in die Kommentare schreiben. Ich freue mich darauf, von dir zu lesen!
Herzlichst, Irmgard
Wow, danke! Diese Unterscheidung von destruktivem und konstruktivem Egoismus bringt mir so viel Klarheit und wird mir bestimmt dabei nützen, mich klar auszudrücken, wenn es in Gesprächen um dieses zentrale Lebensthema geht. DANKE für das sorgfältige Herausarbeiten der beiden Formen, die mit „Egoismus“ gemeint sein können!
Lieber Guido,
herzlichen Dank für dein Feedback!
Ganz liebe Grüße
Irmgard
Liebe Irmgard!
Danke für deine inspirierenden Gedanken zum Thema Selbstfürsorge und Fürsorge für andere!
Zur Frage: Cui bono?
Ich sehe es so:
Gut für sich zu sorgen bedeutet gleichzeitig auch anderen einen Gefallen zu tun, weil man dann positiv und entspannt ist und angenehm im Umgang.
Und umgekehrt, gut für andere zu sorgen bedeutet auch sich selbst einen Gefallen zu tun, weil sie einem am Herzen liegen.
Das ist das Wesen guter Beziehungen, das ist Liebe ❤️
Und sollten mehrere Bedürfnisse schwierig zu koordinieren sein, gilt es kreativ zu werden in den Strategien bzw. Prioritäten zu setzen und einfühlsam zu kommunizieren. ❤️
Dabei hilft die bedürfnisorientierte, wertschätzende Kommunikation
Bis bald!
Sissi-Elisabeth
Liebe Sissi-Elisabeth,
herzlichen Dank für deine so wahren, stimmigen, berührenden Worte dazu.
Ja! Ja! Ja!
Alles Liebe und bis bald
Irmgard