„Jetzt geht das schon wieder los!“, dachte Peter seufzend. Das Drehbuch der kommenden halben Stunde, genau genommen das des restlichen Abends war geschrieben. Ein Wort würde das andere ergeben. Er hatte schon so genug von diesem Spiel. Was sie alles sieht! Manches konnte er ja nachvollziehen, aber so schlimm wie sie das darstellte wird es auch nicht sein. Wie kann man das nur so sehen? So negativ! Vieles sah er einfach anders. Und das durfte doch auch sein?! Und, was soll das heißen, er würde nicht zuhören? Sein Gedankenkarusell spielte die altbekannte Platte. Er war genervt. Gereizt. Konnte man nicht einfach einmal seine Ruhe haben und das Leben genießen?

„Er mischt sich schon wieder ein!“, ärgerte sich Sabine über ihren Kollegen. „Das ist echt nicht seine Sache!“

Ich sehe was, was du nicht siehst, …

Kennst du das Spiel noch aus deiner Kindheit? Wie schnell wusstet du, worauf der/die andere ACHTETE? Was er/sie im Blick hatte? Was deine/r SpielpartnerIn aufgefallen war, das du selbst noch nicht wahrgenommen hattest? Neugierig und interessiert bist du den Hinweisen nachgegangen und hattest dich bemüht, zu erkennen, worauf sich der/die andere bezog.

Wie oft sind wir am selben Ort und sehen dennoch Unterschiedliches? Zu Hause, in der Firma, unterwegs?

Wie ist das im Unternehmen? Bist du Geschäftsführende/r oder Leitung stechen dir andere „Sachen“, ins Auge, als wenn du Mitarbeitende/r bist! Alles ist gleichzeitig da. Doch jede/r sieht auch anderes.

Wie ist das zuhause? Kommst du müde und erschöpft von der Arbeit nach Hause, freust dich darauf, deine „berufliche Haut“ abzustreifen und die Beine wenigstens einen Moment hochzulegen? Dann nimmst du die Stapel gebrauchten Geschirrs auf dem Tisch und in der Küche anders wahr als deine Kinder, die seelenruhig in ihr Handy vertieft sind oder beim Chatten mit ihren Freunden einen scheinbaren Fingertanzwettbewerb auf dem kleinen Gerät hinlegen. Sie beobACHTEN es vermutlich gar nicht! „Es fällt ihnen nicht einmal auf!!!“, schießt es dir durch den Kopf und zündet ein Feuerwerk an Emotionen und Text. „Könnt Ihr nicht E I N M A L …“

Die Sache mit den Sinnen

Ja natürlich, es gibt nur eine Wirklichkeit und eine Realität deren wir ein Teil sind und die wir mit der gleichen Art von Sinnesorganen wahrnehmen können. Unterschiedliches Seh- und Hörvermögen, unterschiedliche Aufmerksamkeit, Wachsamkeit, gesundheitliche Verfassung oder nur ein etwas anderer Standort erzeugen bereits entscheidende Unterschiede im inneren Bild der „gleichen“ Beobachtung. Es macht einen Unterschied, an welchem Ende der Spritze du stehst! 

Und doch sind wir schnell davon überzeugt, dass unsere Wahrnehmung die Richtige ist und damit auch für alle andere gilt.

Niemand weiß gesichert, was der/die andere vor dem Zusammentreffen erlebt oder gemacht hat. Nicht in der Firma. Nicht zu Hause. Blitzschnell passiert es, dass du Bild X wahrnimmst und dein Gehirn turbogeschwind die restliche Story in dir abbildet. Hex, hex, ein paar Verallgemeinerungen mit „immer“, „ständig“, „nie“ oder „jedes Mal“ hinzugefügt und dein Gefühlscocktail beginnt zu wirken!

Deine innere Interpretation verzerrt das Bild noch mehr, wenn du „eh schon weißt, was der/die andere denkt“, „wie er/sie ist“. Je nachdem, wie du darüber denkst, so wirst du dich fühlen. Mit dem/der anderen hat das womöglich wenig oder gar nichts zu tun.

Ob im Zusammenleben oder -arbeiten mit anderen oder wenn es um andere Fakten geht. Wie oft gehst du selbstverständlich davon aus, alles zu wissen, alles zu sehen? Du siehst einen kleinen Teil und ziehst deine eigenen Schlüsse.

Manchmal passiert es auch, dass dein Gehirn nur auf Bestimmtes schaut und anderes einfach tilgt. Als wäre es gar nicht vorhanden. Besonders in Konfliktsituationen oder wenn der Druck steigt, verengt sich der Fokus, stellt sich auf eine Sache scharf.

Auf deiner inneren Leinwand spiegeln sich deine persönlichen Erfahrungen wieder, sie färben dein Bild. Welchen Eindruck hast du beim Autofahren von der vorbeiziehenden Landschaft, je nachdem, ob du deine Hausstrecke fährst oder sie zum ersten Mal als Urlaubende/r siehst?

Wenn es um Vergleiche oder gemeinsame Themen geht, macht es da schon einmal Sinn bei unterschiedlichen Interpretationen der scheinbar gleichen Sache sich die einfache Frage zu stellen: „Aha, interessant! Wie kann das sein, dass der/die andere so eine abweichende Wahrnehmung hat?“

Wie hilfreich, wenn einfach neutral beschrieben wird, was der/die jeweils andere beobachtet und Ihr Euch so ins Bild setzt. Den Blick weitet. Noch mehr erkennt!

Der nächste entscheidende Schritt ist das bewusste innere Abgrenzen zwischen der Beobachtung und deiner folgenden Bewertung. Ein scheinbar untrennbares Paar, deren Grenzfläche nur selten wahrgenommen wird.

Beobachtungen, speziell, wenn sie im negativen Licht stehen, bleiben selten ohne Bewertung oder Begründung stehen. Die innere Reaktion folgt im Millisekundenbereich. Dich abzugrenzen, eine Pause machen und erst einmal Luft holen, um dann bewusst damit umzugehen, ist besonders bei kurzer Zündschnur fast ein Ding der Unmöglichkeit. Es kommt dir in dem Moment gar nicht in den Sinn.

Um Unterstellungen und damit verbunden böse Stimmungsmache zu reduzieren, ergänzen manche neutrale Informationen mit Begründungen, die für den/die Hörenden völlig nutzlos sind und trotzdem positiv wirken.  „Der Intercity 224 nach Graz hat 15 Minuten Verspätung. Grund dafür ist ein technisches Gebrechen auf der Strecke.“ Damit hat sich an der persönlichen Gesamtsituation genau nichts verändert, der in vielen Gehirnen schlafende Ärgerhund wird so hoffentlich nicht geweckt.  Spannenderweise gilt das nicht im gleichen Maße für positive Ereignisse. „Glück gehabt!“ reicht. Wer fragt bei einem Lottogewinn nach dem tieferen Grund dafür oder konstruiert eine Bewertung. Du freust dich einfach darüber und kostest den Moment aus.

Die reine Beobachtung lässt Abweichungen im inneren Bild zwischen den Menschen zu, umso mehr trifft das für die darauffolgenden Bewertungen. Hier bewegst du dich auf einem immer höchst persönlichen Terrain, das rein hausgemacht ist. Egal auf welches Thema, welche Handlung, welche gehörte Aussage du dich beziehst. Jede/r von uns hat dafür eine eigene Beurteilung wie ein Unikat parat. Aus diesen eine uniforme Sichtweise zu erzeugen, versuchen PolitikerInnen, Medienvertreter und Meinungsmacher gezielt mit psychologischem Handwerkszeug. Gibt es jedoch auch in Firmen und in Schulen. Wenn gehetzt wird. Wenn getratscht wird. Stimmung gemacht wird. Erleben manche in der Nachbarschaft. Andere in der eigenen Familie.

Das Rezept ist einfach. Nimm ausgesuchte reine Beobachtungen, die überprüft werden können, lasse dir nicht nützliches, das tatsächlich ebenso da ist und eine Rolle spielt, geflissentlich weg und vermische es gekonnt mit dir „passenden“ Bewertungen und Andeutungen zu einem untrennbaren Brei. Rasch entsteht Raum für Falschaussagen, Verleumdungen, Verhetzung, Dogmatisierung oder Propaganda.

STOP!

Ein explosives Gebräu aus Fakten, Meinungen und Emotionen. Was kannst du dagegen tun? Eine „normale“ Frage, die wiederum Druck erzeugt. Gegen etwas tun. Gegen etwas sein.

Was, wenn du die Frage änderst?

Was ist dir persönlich wichtig? Für jetzt und für die Zukunft?

Sehnst du dich nach einem konstruktiven Miteinander? Möchtest dich in der Gesellschaft der anderen wohlfühlen?

 

Dann hilft vor allem eines: Durchatmen. Bewusst ein- und ausatmen. 

Erinnere dich an das Spiel aus der Kindheit: Ich sehe was, das du nicht siehst …

Beginne mit dir selbst bei dir selbst.

Frag dich, was du wahrnimmst und siehst. Wenn du die Schnittfläche von Beobachtung und Bewertung erkennst und eine klare Grenze ziehst, kann bereits jetzt Folgendes passieren:

Du löst sich erfolgreich von „deinem Problem“.

So kannst du es in aller Ruhe von allen Seiten betrachten.

Vielleicht bemerkst du im Zuge dessen, dass du noch nicht alles weißt, nicht alle Fakten gesichert kennst. Du kannst entscheiden, wie wichtig die Sache für dich und dein Leben ist:

  • Forscht du nach, holst dir weitere Informationen, weil das Thema für dich von Bedeutung ist?
  • Oder ist es dir nicht so wichtig und du kannst es entspannt sein lassen? Weil es für dein persönliches Leben und Weiterkommen keine wirkliche Relevanz hat? Herrlich! So schaffst du dir Zeit und Raum, dich um jene „Sachen“ zu kümmern, die für dich wirklich wichtig sind!

Jetzt, wo die Sache neutral auf dem Tisch liegt, kannst du dich auch fragen, wem „das Problem“ nun gehört. Ist es nicht „deines“, kannst du es sein lassen. Ist es „deines“, kannst du bewusst tiefer tauchen. Dir Zeit nehmen, klar zu werden, worum es dir dabei wirklich geht und wie du damit umgehst.

Geht es um ein gemeinsames Thema, um eine gemeinsame Sache?

Dann spiele das Spiel deiner Kindheit weiter. Frage neugierig und interessiert: „Was siehst du, was ich nicht sehe …“

Mit dieser Frage änderst du den Blick und die Winkel!

Was erzählt dein/e GesprächspartnerIn? Siehst du nun auch, worauf er/sie sich bezieht?

Höre in aller Ruhe zu. Lass den/die anderen aussprechen. Vielleicht verstehst und begreifst du plötzlich etwas, was dir zuvor verborgen war!

Beschreibe auch du, was du siehst. Was du hörst. Was du im Außen beobACHTEST.

Alles sind einzelne Teile eines großen ganzen Bildes. Was seht Ihr beide gleich? Was seht Ihr aus Eurer Perspektive auch anders? Wie bei einem Puzzle erschafft Ihr gemeinsam Euer Bild. Ihr habt Klarheit über Eure gemeinsame Ausgangsposition.

Lass das gesamte Bild neu auf dich wirken.

Womöglich hat sich bereits jetzt etwas verändert?

Auf jeden Fall entsteht dadurch eine wertschätzende Atmosphäre, die trotz vielleicht konträrer Meinungen für beide Seiten ein angenehmer Ort und eine gute Zeit sein kann. Ein guter Boden, um daraus Neues, Gemeinsames wachsen zu lassen!