Wer kennt nicht die Klassiker – „immer musst du deinen Willen durchsetzen, immer muss ich mich alleine um die Kinder kümmern, nie kann man ein sinnvolles Gespräch mit dir führen, du bist gefühllos, du hältst immer mit den Kindern, du lässt immer mich die Drecksarbeit machen, du machst sowieso, was du willst, du räumst nie dein Geschirr weg, ihr werft euer Gewand immer auf den Boden, für meine Belange interessiert sich niemand, nicht einmal den Müll können sie raustragen, wieso kann ich nie meine Ruhe haben, nicht einmal im Urlaub kann ich mich entspannen, es kommen sowieso nur Vorwürfe, Hauptsache du hast Recht, du verstehst mich nicht, kannst du nicht einmal zuhören, könnt ihr euch nicht einmal benehmen, nichts kann man von euch haben …“
Wie eine Lawine donnern kritisierende Worte auf das jeweilige Gegenüber, schütten alles Liebevolle, alles Verbindende zu. Ein Ton, eine Bemerkung, eine Bewegung, etwas das da ist, wo du es nicht sehen magst. Ein Hauch hat deine Sinneswahrnehmung gestreift, schon sind die Urteile im gleichen Atemzug gesprochen wie gedacht. Der/Die Angeklagte (das Familienmitglied, das jetzt die Klage hört) braucht sich nicht zu verteidigen, wird stummer Zeuge eines ohrenbetäubenden Schuldplädoyers, das in seiner Schärfe nichts zu wünschen übriglässt. Das ist man sich schließlich selbst in dieser Situation schuldig.
Die Sehnsucht nach Ruhe und Frieden
Dass das denn immer so sein muss! Du willst doch nichts anderes als Ruhe und Frieden! Einfach in Ruhe und in Frieden miteinander leben. Doch deine Nächsten, genau jene, die eigentlich die Verständnisvollsten sein müssten, haben sich offenbar wieder einmal gegen dich verschworen. Sie machen dir und Euch das gemeinsame Leben schwer, das doch leicht so viel schöner wäre! Fast könnte man glauben, sie machen das absichtlich. Auch, wenn du weißt, dass dem nicht so ist. Doch das hast du ganz und gar nicht verdient. Wer hier in dieser oder ähnlichen Situationen im Recht ist und wer Unrecht hat und ob es das in diesem Zusammenhang überhaupt gibt, geschweige denn Sinn macht, steht nicht einmal zur Debatte. Du kannst die Verteidigung und auch die Rechtfertigungen gar nicht hören, du willst es auch gar nicht, weil die Beweislage einfach zu klar und zu erdrückend ist. Wie beim äußerst sehenswerten SW-Filmklassiker „die zwölf Geschworenen“, nur das hier und jetzt nur ein/e Geschworene/r, nämlich du selbst, anwesend ist und sein Urteil gefällt hat. Schuldig!
Wieso können wir gerade im Umgang mit unserem/r PartnerIn, unseren Kindern so hart und manchmal auch so verletzend reagieren? Das gebrauchte Kaffeehäferl deiner lieben Kollegin, das seit Tagen verwaist im Sozialraum am Tisch steht, die verärgerte – und unmögliche – Aussage deines Chefs, weil ihm was nicht passt, der verzogene Mundwinkel der Mitarbeiterin aus dem anderen Team, wenn du nach bestimmten Unterlagen fragst, auf vergleichbare Situationen mit anderen bekannten Menschen würdest du weder in obiger Lautstärke noch solch schonungsloser Direktheit abgehen. Andere niederbetonieren, zusammenstauchen, so richtig die Meinung sagen? Nein! Das käme nicht einmal ansatzweise in Frage! Da gebieten dir lange zuvor deine Kinderstube und Erziehung Einhalt.
Der Unterschied zwischen deinen Nächsten und dem restlichen sozialen Umfeld
Was macht den Unterschied zwischen der eigenen Familie und dem restlichen sozialen Umfeld? Welche familiären Spezialitäten sind der Grund dafür, dass Zuhause andere Programme gespielt werden als im Außen? Ist eine davon die Vertrautheit?
Je länger ein Paar zusammen ist und je größer die eigenen Kinder werden, umso mehr baut jegliche Einschätzung einer gegenwärtigen Situation auf einer unermesslichen Vielzahl von Erfahrungswerten und Erlebnissen mit der entsprechenden Person auf. Es gibt keine Neutralität, du kennst deine Liebsten, bist mit ihnen und ihren Wesenszügen und -arten vertraut. Der raue Alltagswind hat Sichtweisen, Einstellungen und Meinungen reliefartig manifestiert. Ihr lebt gemeinsam Tag für Tag. In derselben Wohnung oder Haus, jede/r mit regelmäßigem, individuellem Ausgang. Das Zusammensein mit deiner Familie ist dir kostbar und wertvoll! Nichtsdestotrotz überschneiden sich deine eigene Privatsphäre und deine Sehnsucht nach persönlicher Ungestörtheit gepaart mit deinen Erwartungen und Vorstellungen, wie etwas zu sein oder auszusehen hat, oft plötzlich mit den Lebenswelten der grundsätzlich geliebten Mitbewohner. Reibungspunkte sind damit vorprogrammiert. Es geht ja schließlich auch um den Schutz der eigenen Identität.
Das ist aber nicht immer so, denkst du dir? Wie oft habt Ihr es schön und gemütlich und fein miteinander? Wie oft agierst du ruhig und bedacht? Nimmst wahr, räumst einfach weg, lässt sie machen und tun, erläuterst und erklärst du geduldig! Man ist ja kein Ungeheuer! Fällt jedoch eine Beobachtung, sei es ein unüberlegter Ausspruch, herumliegende Wäsche, eingetrocknetes Geschirr oder was auch immer, auf fruchtbaren emotionalen Boden, einfach weil du müde und erschöpft, gestresst oder gerade sowieso verärgert bist, bist du bereit! Der Übeltäter ist bekannt und du kennst ihn haargenau. Dein verbal schneidend vorgetragener Richterspruch sitzt. Du warst schließlich – täglich grüßt das Murmeltier gleich – vorbereitet. Dein Gehirn hat das Ganze quasi schon kommen sehen. Eine Form der selbst erfüllenden Prophezeiung, die vollautomatisiert auf ein inneres Programm der Reaktion zugreift und keinerlei Raum für Überlegungen lässt.
Dein Autopilot
Dieser Autopilot hat den Nachteil, dass er die tatsächliche Sinneswahrnehmung nur verschwommen berücksichtigt und immer von einem bewussten Angriff auf die eigene Person ausgeht. Die nackte Beobachtung, die neutrale Sache, spielt in diesem Millisekundenbereich nicht die geringste Rolle. Er erlaubt auch keine ergänzenden Beobachtungen, verschließt sich kleinen Veränderungen sowie positiven Signalen. Die angebotene Friedenspfeife kann dein Gegenüber alleine rauchen! Das Urteil lautet nun mal „schuldig“. Es gibt keinen Platz für mildernde Umstände.
Du willst ja gar nicht meckern! Willst nicht schon wieder die Person sein, die etwas sagt. Die etwas sagen muss! Doch die Bewertung „das ist so rücksichtslos“ erzeugt hohe Aggression, speziell wenn du dich eh schon lange genug zurückgehalten hast und der Druck in dir steigt. Dazu kommt noch deine täglich geforderte Kompromissbereitschaft im Beruf. Diese kannst und willst du dann nicht auch noch privat zuhause zeigen müssen! Zuhause. Dort, wo du mit den anderen so tief vertraut bist. Dort, wo du das Vertrauen hast. Da traust du dich plötzlich, ungefiltert alles herauszulassen.
Sind diese messerscharfen Bewertungen in der Familie also eine Art Überdruckventil in uns? Helfen sie, den Kopf freizubekommen, sich Luft zu machen und zu schaffen, speziell in einem dichten, eng getakteten, harten Arbeitsalltag?
Das Schmerzhafte in den Bewertungen
Mit jeder Bewertung zoomst du die auslösenden Momente ganz nah an dich heran, blendest alles andere aus, verstrickst dich in ihnen, sinkst tiefer im Sumpf deiner Gefühle, verhedderst dich im aufgewühlten Gedankengewirr, sodass dir die Sache immer mehr ins Auge sticht und du scheinbar nur eine Wahl hast, diesen schmerzenden Knoten von dir zu lösen: durch messerscharfes Durchschlagen.
Mit diesen schneidenden Urteilen trennst du dich jedoch auch von dem ab, was dir selbst am Allerwichtigsten ist: der Kontakt und die Verbindung zu dir und jenen, die dir am Herzen liegen. Kleinere Verletzungen und größere Wunden zeugen von den einzelnen Kämpfen. Manche verheilen schnell, andere vernarben langsam, werden immer wieder aufgerissen.
Auch in der überlieferten Geschichte der Lösung des Gordischen Knotens durch Alexander des Großen gibt es zwei Varianten: die des harten Durchschlagens mit dem Schwert und die des eleganten Lösens durch das Herausziehen des Deichselnagels. So konnte der das Joch wegziehen.
Wie kannst du diesen gordischen Familienknoten geschickt lösen?
Regel Nummer 1:
Es geht nicht um Leben und Tod! Du hast Zeit! Du kannst dir die Zeit nehmen für das, was dir wirklich wichtig ist!
Hier findest du 5 Erste-Hilfe-Maßnahmen für emotionsgeladene Situationen.
Regel Nummer 2:
Akzeptiere, dass dieser wild gewachsene Autopilot (noch) Teil von dir ist. Sobald du dir dieses Programmes bewusst bist, kannst du es nach und nach deaktivieren. Wie?
Regel Nummer 3:
Nagel dich nicht auf deine Bewertungen fest, sondern entferne den Nagel, an dem deine Bewertungen hängen. So losgelöst schau genau! Mache eine schlichte Beobachtung. Was ist Sache? Das gilt also in der Familie gleich wie in jeder anderen Lebenssituation. Vielleicht sogar noch mehr aufgrund der persönlichen Nähe.
Diese Wege kannst du in Ruhe wie auch in beMERKensWERTEn Situationen beschreiten!
Der Weg in Ruhe
Du kennst deine häufigsten Auslöser. Kannst sie aufzählen, namentlich benennen. Diesen Vorteil machst du dir selbst zunutze und schreibst sie auf. Sobald du deine erste Liste hast, die du nach und nach aktualisierst, entschärfst du deine Tretminen, in dem du deine Vorwürfe, Schuldzuweisungen und Bewertungen vorsichtig zur Seite wischt, auf ein Häufchen legst und sauber bei jedem einzelnen Punkt die neutrale Beobachtung freilegst. Ohne „jedes Mal“, „immer“, „nie“. Ohne ärgertreibendes „schon wieder“ oder „zum hundertsten Mal“. Einfach so. Ganz akribisch. Nackt, nüchtern, bewertungsfrei. Vielleicht schaut deine Liste dann so aus?
- Das mit Nutella eingetrocknete Messer liegt in der Abwasch.
- Sie schließt das Fenster.
- Er wischt die Spüle mit dem Geschirrtuch trocken.
- Im Kinderzimmer liegen am Boden leere Getränkeflaschen, Kekspackungen und Kleidung.
- Er sagt: „Das müssen wir essen, bevor es schlecht wird.“
Vielleicht kommt dir in dem Augenblick sogar das Lachen! Auf das fährst du ab?!
Anderes wurmt dich womöglich auch nüchtern betrachtet. Dies lädt dich ein, genauer hinzuschauen: Nämlich in dich! Was dich bewegt und treibt. Wonach du dich sehnst und was du dir wünscht.
In einer beMERKENsWERTen Situation
Besinne dich aufs Atmen! Atme ein. Atem aus. Friere die Situation ein.
Beobachte wie in Zeitlupe, was da draußen zu sehen und zu hören ist. Beschreibe die Fakten. Einfach so. Nur das!
Frag dich selbst: Was weißt du gesichert? Was weißt du nicht?
Kann diese vorurteilsfreie Aufnahme dazu führen, dass du auch andere Argumente zulässt, weil du in der Lage bist, kurzzeitig in die Rolle des anderen zu schlüpfen? Und du die Situation aus dem Blickwinkel des anderen betrachtest. Und sich dadurch plötzlich ein ganz anderes Gesamtbild ergibt?
Dein Gewinn
Dein Gewinn einer entspannteren, neugierigen, aufmerksamen Betrachtung der Ereignisse?
- Du hängst dich nicht daran auf, sondern machst dich frei.
- Du nimmst dir selbst den Raum, deine eigenen Bedürfnisse situativ zu begreifen und für dich richtig einzuordnen. Damit öffnet sich der Weg hin zu einer nun vielleicht auch punktgenauen Präzisierung, worum es dir geht und warum dir das so wichtig ist.
Hört sich leicht an, aber funktioniert bei dir nicht, wenn du geladen bist? Wenn du bei nur zwei von zehn Situationen anders reagierst, dann hast du schon etwas verändert. Du bist damit auf einem neuen Weg. Was dir einmal gelungen ist, kannst du wieder schaffen. Jeden Tag aufs Neue kannst du Üben, Ausprobieren, Testen und sehen, was wann wie für dich passt und wie du mehr von dem in dein Leben bringst, das dir gut tut! Du bist in Bewegung.
Wie geht es dir in solchen Situationen?
Was fällt dir leicht? Was fällt dir schwer?
Wenn du magst, kannst du uns schreiben! Wir freuen uns darauf, von dir zu lesen!

Stefan und Irmgard Wallner Foto von www.danialamodeo.com
Herzlichst,
Irmgard und Stefan
… auch immer wieder übend, Beobachtungen und Bewertungen zu trennen.
Liebe Irmgard, lieber Stefan,
es ist schon fast unheimlich, wie Deine/Eure Newsletter immer genau passend zu meinen Situationen einflattern… 😉
Und ich kann alles unterschreiben, was Du schreibst und bin dankbar für Deine Erinnerungen und Tipps, wie ich damit umgehen kann…
Ja, es ist wirklich leichter, wenn man nicht geladen oder getriggert ist…
…und manchmal ist ein Teil in mir, und da mag ich auch nicht immer die sein, die wieder verständig oder empathisch ist, manchmal sollen auch die anderen sich ein wenig bemühen… 😉
….obwohl es deren Sache ist und ich in deren Angelegenheiten unterwegs bin und es nicht ändern kann,
…nur wieder, ob ich bei mir bin, was ich brauche, wie ich drüber denke, fühle, spreche oder handle….
Danke!
Herzliche Grüße zurück
Romana
Liebe Romana,
herzlichen Dank für deinen Kommentar!
Ja, manchmal ist es wirklich schwierig! Was es leichter machen kann?
Sobald du Beobachtung und deine BeWERTungen getrennt hast, frage dich: Wem gehört das Problem?
HANDeln und etwas in Bewegung setzen kannst du nämlich nur dort etwas, wo du es auch in der Hand hast.
Da wird es leicht(er).
Alles andere, das du zu dir nimmst und nicht in deinen Händen hast, drückt schwer, beLASTet. Deshalb ist es wichtig, das los- und freizulassen und einfach „nur“ zu beobachten.
Herzliche Grüße
Irmgard
Liebe Irmgard lieber Stefan,
Eure Texte lassen mich Zeit, Raum und Hintergründe vergessen. Durch die gesetzten links surfe ich von Text zu Text…. Herrlich, wenn ich mir dafür genügend Zeit einräume. Danke für eure wohligen Texte, die mir sehr gut tun und die ich am Liebsten inhalieren würde.
Die Beschäftigung mit diesen Inhalten und Gedanken unterstützen mich auf meiner Lebensreise…..Gefühle, Stimmungen und Situationen finden in dem Versuch sie zu erklären neue Worte…. Welch ein Genuss!!!
Herzlichen Dank für eure wertvolle Arbeit,
Andrea
Liebe Andrea,
herzlichen Dank für deine herzerwärmenden, wohltuenden, stärkenden Worte!
Wir freuen uns SEHR darüber!
Alles Liebe,
Irmgard und Stefan