Viele Artikel beschäftigen sich mit der Frage, wie wir mit Ratschlägen umgehen und mit welchen Antworten sie abgewehrt werden können. Doch warum sind wir solche Meister:innen im Verteilen guter Ratschläge? Wie oft raten wir eigentlich uns selbst etwas? Uns, der Person, die wir am besten kennen? Mit allen Stärken, Schwächen und Wünschen. Deren Leben wir zu einhundert Prozent teilen? Mit allen Erlebnissen, Erfahrungen und Eindrücken. Wo es kein Verstellen gibt, kein Verheimlichen, sondern die reine Kenntnis der Umstände. Da wäre das Raten wirklich angesagt! Die Wahrscheinlichkeit, aus Unkenntnis falschzuliegen, wäre minimal. Wir tun es nicht. Wir kratzen uns selten oder nie den Kopf und fragen uns: „Hmmm, was rate ich mir jetzt bloß?“

Nein, wir tun es nicht, dafür sind wir Meister:innen darin, ANDEREN Ratschläge zu geben. Die deutsche Sprache packt den Rat mit dem Schlag zusammen. Wir teilen also ratend Schläge aus, die sitzen. Weil wir es wissen. Basta.

Andererseits kategorisiert die deutsche Sprache das Raten in zwei sinngemäß unterschiedliche Typen. In den Rat, der „gewichtig und weise“ ist und in das Raten im Sinne von im Dunkeln tappen, keine Ahnung haben. Schon interessant. Weil wir zu wissen meinen, wie es geht, raten wir unseren Mitmenschen, die scheinbar offensichtlich in die Irre gehen. In großzügiger Geberlaune lassen wir sie Anteil nehmen an unserem Weitblick.

Wenn wir schon dabei sind, dann können wir auch gleich einmal die Politiker dieser Welt aufklären darüber, wo sie falsche Wege eingeschlagen haben und wie die Dinge eigentlich laufen sollten. Wir wissen es und wenn wir einen Lauf haben und in Fahrt sind, dann sind wir so richtige weltmeisterliche Weltverbesserer. Wir haben für alles und jedes den passenden RatSCHLAG.

Was wir nicht wissen, sondern raten

Und doch, was wissen wir eigentlich über die andere Personen und deren ständige Lebenswelten? Über die armen Fehlgeleiteten, über Vorgesetzte, Mitarbeitende, Kolleg:innen. Über unsere (erwachsenen) Kinder oder unsere Partner im Speziellen? Unerschütterlich halten wir das Licht fest in unserer Hand, das sie aus der Dunkelheit führen würde. Warum können sie das nicht sehen, würdigen und einfach anerkennend danach handeln? Es ist ja gar nicht überschwänglicher Dank, den wir uns erwarten, sondern einfach nur ein promptes Handeln unserem RatSCHLAG entsprechend. Nein und nochmals nein! Sie machen es nicht! Als hätten sie taube Ohren, übergehen sie, ohne mit der Wimper zu zucken, den kostbaren Inhalt unserer Äußerungen. Welch Ignoranz. Und halt, nein! Jetzt wird auch noch eine Mauer aufgerichtet und unser wertvoller Rat entrüstet zurückgewiesen. Wie kann das bloß sein? Und nein, das passiert nicht versehentlich einmal, sondern scheint System zu haben. Sind sie wirklich so vernunftwidrig oder geht es dabei um uns als Person? Ja, das könnte es sein. Weil ich die Mutter, der Vater, der Partner bin? Gelte ich weniger als alle anderen? Sind daher auch meine Ratschläge weniger oder nichts wert? Landen sie deshalb wie UnRAT im Mistkübel der Entscheidungsmöglichkeiten?

Warum ist das also so? Wenn wir einen Rat aussprechen, geht es nicht um uns, sondern um die andere Person. Vielleicht ist glasklar zu erkennen, dass etwas im Leben des anderen in die falsche Richtung läuft. Nur lebenserfahrene Hinweise können hier vor drohendem Unheil schützen. Womöglich liegen in einer Situation die Handlungsoptionen des Betreffenden verborgen im Nebel und deshalb handelt er nicht oder zögert.

Wie gut, dass es uns gibt! In diesen Momenten können wir zeigen, was in uns steckt! Mit all unserer Erfahrung, Fertigkeit und Weisheit nehmen wir das Zepter in die Hand und formen daraus unseren Ratschlag, kreieren die besten Ideen! Das werden auch die anderen, die Betreffenden sehen. So einfach kann es gehen!

Ist das so? Was wissen wir über die aktuelle Situation unserer Mitmenschen? Diese neigen dazu, uns das von ihnen zu zeigen, was sie wollen, dass wir sehen. (Siehe hier unter Scheinbar notwendige „Bedürfnisse“) Aus diesen Fragmenten konstruieren wir die Lösung, ergießen uns im Ratschlag.

Tatsächlich sehen wir mikroskopisch kleine Ausschnitte im Verhältnis zum gesamten 24/7 Leben der anderen. Ist eine bestimmte Geschichte Ausgangspunkt einer Erzählung, hast du möglicherweise viel, sicher nicht alles oder sogar gar nichts direkt mitbekommen. Du hörst nur das Geschilderte. Selbst wenn du Augen- und Ohrenzeug:in von Geschehnissen warst, so hast du das aus deiner Perspektive miterlebt, die immer eine andere ist.

Welche inneren Turbulenzen ausgelöst wurden, welche Gedanken belasten, welche Ängste scheinbar unüberwindbare Hürden aufstellen, welche Zweifel quälen, welch alte Lasten und Schmerzen nach oben gespült wurden, welche Umstände eine Mitrolle spielen, welche Gefühlsmischung das Innerste treibt, all das weißt du nur lückenhaft oder gar nicht. Du siehst kleine Ausschnitte, Puzzleteilen gleich, aus denen du heraus deine höchstpersönlichen Schüsse ziehst.

Schon zünden deine guten Absichten ein Feuerwerk an möglichen Ideen: „Du könntest ja …“ „Warum tust du nicht …“ „ Du solltest einfach einmal …“
Wie hoch mag da, statistisch betrachtet, die Trefferquote sein? Dass das vom anderen Ungefragte und von uns Geratene passend und stimmig ist für ihn oder sie? Dass es ihm/ihr im Augenblick hilfreich und dienlich ist?

Gute Absichten hinter guten Ratschlägen

Was sind die motivierenden Absichten hinter der sprudelnden Ideenquelle?
Jene guten Absichten, die wahrgenommen, gesehen und geschätzt werden wollen? Das, was gut gemeint war?

HILFE und UNTERSTÜTZUNG
Helfen wollen kann zum mächtigen Antrieb werden:

  • Wenn du helfen willst, dass es dem/der anderen sofort besser geht.
  • Wenn du helfen willst, dass es dem/der anderen künftig besser geht.
  • Wenn du helfen willst, die Dinge in Ordnung zu bringen, damit sich der/die andere wohler fühlt.

SCHUTZ und SICHERHEIT
Manchmal ist es schwer.
Wenn dir die betreffende Person nahe steht, ist es schwer.

Es ist schwer, zuzuschauen. Wenn du Sorge hast, dass sie eine falsche Entscheidung trifft, eine, die ihr nicht guttut, sondern letztlich – früher oder später – schadet. Dir geht es um Schutz und Sicherheit.

Es ist schwer, mitzuerleben, wie sie sich quält, wie sie sich (weiter) schadet, sich scheinbar tief oder noch tiefer in ein Problem hineinreitet, sich (weiter) reinziehen lässt in einen Sumpf. Dir geht es um Schutz und Sicherheit.

Es ist schwer, auszuhalten. Wenn es ihr schlecht geht: persönlich, gesundheitlich, beruflich, in der Partnerschaft, in einem bestimmten Umfeld … und du sichere Ideen in petto hast, wie es ihr besser gehen würde, was ihr besser tun würde, was es ihr leichter machen würde.

Weil es dir um Schutz und Sicherheit geht, drängen deine Meinungen nach draußen und raten:
„Du solltest es ihm sagen!“
„Du solltest einmal versuchen, gesünder zu essen. Mehr zu trinken (Wasser). Mehr gezielte Bewegung machen. Das tut dir sicher gut!“
„Also ich kann dir nur raten, mit dem Rauchen aufzuhören, weniger zu trinken (Alkohol).“
„Hast du XY schon probiert? Ich kann dir das nur raten!“

Einen Kurs machen, ein Buch lesen, erst einmal alles aufschreiben, die Fülle an gut gemeinten Ratschlägen ist kaum zu bremsen.

So ist es, wenn dir die andere Person am Herzen liegt. Schwer. So schwer. Zu schwer.
Darum nimmst du ihr die gedanklichen Zügel aus der Hand und schreitest zur rettenden Tat. Pflanzt deine guten Ideen ein.

ANERKENNUNG

Manche möchten mit ihrem Beitrag einfach aufzeigen und selbst GESEHEN werden: mit ihrem Wissen, ihrer Erfahrung. Sehnen sich nach ANERKENNUNG. Und raten.

Wie es für die vom RatSchlag getroffene Person ist

Wer von sich spricht, möchte in erster Linie GEHÖRT werden. GESEHEN werden. VERSTANDEN werden. Wo man gerade auf der höchstpersönlichen Lebensreise unterwegs ist, welche Fragen beschäftigen, wo der Schuh drückt und Blasen verursacht, welche Sehnsüchte anstacheln, was aufwühlt, bewegt und schmerzt. Welche Hoffnungen Zuversicht geben. Welche Ideen bunte Blüten treiben und traumhafte Zukunftsbilder malen.

Mit dem Erzählen werden durchs Fenster kleine Einblicke gewährt oder eine Tür geöffnet und Zutritt ins Persönliche erlaubt. So, als wäre man vom anderen zu sich nach Hause eingeladen worden.

Hier ungefragt Ratschläge austeilen ist, als würde jemand in die Wohnung einfallen, würde energisch Möbel und Einrichtungsgegenstände umstellen, begeistert Bilder umhängen, nur weil er es so besser findet. Gründliche Ratschlaggebende räumen gleich zusammen, schnappen sich die Putzsachen, stauben alles ab und wischen alles weg und auf! Diese Schläge treffen! Auch wenn es möglicherweise danach hübscher aussieht.

Was zählt

Was zählt, ist RESPEKT.
RESPEKT vor dem Leben des/der anderen! Inklusive aller Entscheidungen.

Wenn es um das Leben und die Angelegenheiten anderer geht, bist du Gast.

Entsprechend respektvoll benimmst du dich. Du fragst, bevor du etwas in die Hand nimmst, bevor du persönliche Dinge berührst.

Je näher uns der andere ist, umso mehr laufen wir Gefahr, deren Wohnung nach unseren Vorstellungen gestalten zu wollen, durchs Haus zu fegen! Ob wir Recht hätten oder nicht. Natürlich nur mit den oben genannten besten Absichten: Helfen, in Ordnung bringen, es besser, leichter, heller, schöner machen.

Als Gast bist du einfach nur einmal da.

Was für dich wichtig ist

Für dich ist es wichtig, selbst sehr klar zu wissen, wozu du bereit bist, wenn du eingeladen bist, zuzuhören und wozu nicht. Wo deine persönlichen Grenzen sind. Was du hören magst und was nicht, weil du es schwer oder gar nicht aushältst. Wo du nicht Anteil nehmen magst, weil du nicht weißt, wie du damit umgehen sollst.
Es ist Ausdruck von MITGEFÜHL und FAIRNESS, diese Grenze ehrlich zu zeigen, anstatt Erzähltes wegzuwischen und es ungefragt mit Rat zu erschlagen.

Es ist genauso wichtig, selbst klar zu haben, ob du etwas anders willst! Ist das nämlich so, dann sag das bitte. Sprich von dir, anstatt dem anderen etwas ratend unterzuschieben.
Dann wird vielleicht aus einem: „Also ich rate dir einfach, den Wecker früher zu stellen und rechtzeitig außer Haus zu gehen.“
Ein: „Ich lege Wert auf Verlässlichkeit. Bitte komm pünktlich.“

Der Wert des Zuhörens

Ansonsten sei dir bewusst, dass du ganz viel nicht weißt! Höre daher erst einmal genau zu, versuche zu verstehen. Das ist alles, worum es geht. Ganz oft nämlich geht es nur ums GESEHEN und RICHTIG VERSTANDEN werden. Mehr ist weder nötig noch gewünscht.

Abwarten und einfach nur zuhören, sind oftmals eindeutig die richtige Lösung. Weil wir es NICHT immer besser wissen und damit unsere vermeintlich guten Ratschläge für den anderen auch schlichtweg falsch sein können. So vermeiden wir UnRAT und Unmut.

Achtung! Wirst du gefragt: „Was sagst du dazu?“, dann steckt hinter dieser Aussage meistens der Wunsch, richtig verstanden worden zu ein. Die Sicherheit steigt, wenn du deiner/deinem Erzählenden sagst, was bei dir angekommen ist. Bevor du also deinen Senf dazu gibst, vergewissere dich mit eigenen Worten, ob du das, worum es ihm/ihr geht, richtig verstanden hast.

Oft entspringen bereits aus dem GEHÖRT werden und sich selbst sprechen HÖRENS, eigene, klare, machbare gute Ideen. Vielleicht sind es sogar jene Ratschläge, die du schon längst für den/die anderen gehabt hättest. So aber sind sie aus sich selbst entsprungen, sind der eigenen inneren Stimme gefolgt und haben so eine ganz andere Qualität. Eine kräftige Umsetzungsstärke.

Juckt es dich, deine Gedanken unbedingt einbringen zu wollen? Dann kannst du respektvoll danach fragen „Du ich habe da noch Gedanken / eine Idee dazu, die ich dir gerne zeigen würde. Magst du sie hören?“ Warte die Antwort ab, respektiere ein höfliches „Nein, danke.“ Oder präsentiere deine Lösungen auf einem Silbertablett, die der/die anderen annehmen oder liegen lassen kann.

Zuhören ist eine aktive Handlung, eine die nie falsch ist und oft auch in letzter Konsequenz dazu führt, dass wir schlussendlich um unserer Meinung, um unseren Rat gefragt werden. Dem dann zugehört wird und der, wenn er passend und vernünftig erscheint, dann auch aus einer positiven Grundstimmung heraus gerne angenommen werden kann.

💛 Wann treibt es dich, Ratschläge zu geben?

💛 Was sind deine guten Absichten dahinter?

💛 Wie sorgst du dafür?

Wenn du magst, kannst du uns in die Kommentare schreiben. Wir freuen uns, von dir zu lesen!
Herzlichst
Irmgard und Stefan

Stefan und Irmgard Wallner Foto von Danila Amodeo www.danilamodeo.com

Wir kennen das Jucken, unsere Beiträge zum Besten zu geben. Wir wissen, wie schwer es sein, kann, dies für uns zu behalten. Wir wundern und staunen, wie sich Menschen und Dinge entwickeln, ohne, dass wir sie Anstubsen, Anstoßen, woanders hinführen (wo es doch deutlich sinnvoller, gescheiter, besser ist 😉). Je mehr wir das beobachten können, umso leichter fällt uns das still sein.
Wir hoffen, es wird uns verziehen, wenn es uns trotzdem einmal passiert. Du weißt ja: es ist bestimmt ganz gut gemeint und nur den besten Absichten entsprungen.

 

 

Beitragsbild von draganab von GettyImagesSignature