Unser Körper ist trotz seiner Robustheit und Langlebigkeit doch verletzlich. Ob wir uns beim Gemüseschnippeln in den Finger schneiden, mit einer zu raschen Bewegung unseren Nacken freigeben und vom Hexenschuss getroffen werden, wir auf rutschigem Untergrund verknöcheln oder uns richtig schlimm verletzen: Ein kurzer Moment der Unachtsamkeit und ein durchdringender Schmerz. Das Missgeschick ist passiert. Wir bereuen die unbedachte Handlung. Mehr und mehr achten und schützen wir deshalb mit zunehmendem Alter unseren physischen Körper. Passen auf ihn auf! Wir sind verletzlich und wollen uns nicht weh tun!

Seelische Verletzlichkeit

Wie sieht es mit unserer seelischen Verletzlichkeit aus? Auch wenn wir gesund und stark sind, so sind wir auch auf dieser Ebene verletzlich. Verletzlichkeit ist ein Gefühl, das uns bewegen kann. Ein ganz Spezielles. Es fühlt sich nicht angenehm an. Es wirkt tief aus unserem Innersten. Uns zu verletzen gilt es, wenn möglich, zu vermeiden. Wem zeige ich mich verletzlich? Wem öffne ich mich? Wem vertraue ich, dass vorsichtig und achtsam damit umgegangen wird?

Grenzenlos

So unverwundbar wie Siegfried sein, das wäre doch was, oder? Mit einem dicken Panzer der Unverwundbarkeit durchs Leben gehen, das würde uns wohl nach außen hin abschirmen. Unantastbar sein. Nichts durchzulassen, damit andere uns nicht angreifen können. Unberührbar erscheinen. Ein Ziel oder doch eher eine weitere Maske in einer Scheinwelt?

Wir würden schmerzfrei jede „heiße Herdplatte “ berühren. Würden verglühen, verbrennen, verkohlen. Nichts spüren. Nichts achten. Nichts in unserem Sinne anders machen wollen. Wenn wir diese „Gabe“ der Unverletzlichkeit hätten.

Es gäbe keine Grenzen und wir würden wahrscheinlich regelmäßig in der einen oder anderen Form anecken, kaputt machen, zerstören und uns ins gesellschaftliche Out stellen. Keine Verletzung, kein Schmerz, dafür aber würden sich andere Gefühle regen. Einen unangenehmen Gefühlsmix der anderen Art erzeugen. Nichts Positives. Nicht für uns, nicht für andere, wäre das Resultat.

Der Sinn unserer Verletzlichkeit

Die uns innewohnende Verletzlichkeit hat also ihren Platz, ihren Sinn. Sie macht uns aufmerksam, weist uns auf etwas hin. Es schmerzt, es tut dir etwas weh? Eben weil du ein fühlender Mensch bist. Der sich spürt. Der so darauf aufmerksam gemacht wird, dass etwas nicht stimmt. Nicht gut tut. Schadet. Die Intensität des Fühlens beeinflusst unser weiteres Handeln. Ob wir uns gegen eine schmerzhafte Situation wehren, flüchten oder der Ursache auf den Grund gehen, wir legen uns einen Handlungsplan für die Zukunft zurecht.

Einmal an der heißen Herdplatte verbrannt ist genug! Wir können uns entscheiden, uns verletzende Menschen aus dem Weg zu gehen, bestimmte Themen nicht mehr aufkommen zu lassen oder durch Schweigen eine Tür nach außen zu schließen, um unser kostbares Innerstes zu schützen.

Grade der Verletzlichkeit

Der Grad der Verletzlichkeit ist nicht immer gleich. Wo wir in gesunden, stabilen Phasen nichts wahrnehmen und nichts spüren, sind wir speziell in unsicheren Lebensphasen besonders verletzlich. Zum Beispiel bei Krankheit oder in Zeiten der Veränderungen, unabhängig von der Ausgangssituation und dem Ziel. Wenn viele verschiedene Einflüsse gleichzeitig auf uns einwirken, wir dabei konzentriert auf unseren Weg sind, reagieren wir sensibel, spüren schnell und intensiv und mehr als sonst. Sind wir verletzlich und verwundbar.

Dann suchen wir SCHUTZ. Zeigen wenig Angriffsfläche und ziehen uns zurück. Verbergen uns, um im Stillen zu wachsen oder zu heilen. Wir zeigen nicht unseren Grund. So geben wir anderen gar nicht erst die Gelegenheit, ihre Finger in unsere Wunden zu legen, darin zu rühren oder kostbare Keimlinge zu zerstören. Wo wir selbst schon innerlich ringen und wackelig wie auf einem Bein stehen, wollen wir nicht auch noch von anderen gestoßen werden.

Unsere Verletzlichkeit hilft uns

  • unsere persönlichen Grenzen zu setzen.
  • unsere persönlichen Grenzen zu wahren, für sie einzustehen.
  • Nein zu sagen.
  • Zeit mit uns selbst zu verbringen und uns auf das WESENtliche zu konzentrieren.
  • auf uns selbst zu achten.
  • nur jene Menschen zu uns einzuladen, die uns gut tun. Die unseren WERT und den WERT unseres Zusammenseins achten und schätzen.

 

Wie wertvoll ist es, Menschen um sich zu haben, die uns einen geschützten Rahmen bieten. Wo wir uns öffnen und zeigen dürfen. Wo behutsam und achtsam auf uns geschaut wird und auf das, was uns wichtig ist. Zum Beispiel

  • auf das, wo wir selbst nur ungern hinschauen wollen, weil es weh tut. Was wir jedoch in Ordnung bringen und heilen wollen.
  • Oder auf unsere Bedürfnisse, die sich hinter selbstkritischen Aussagen verbergen.
  • Auf das, was wir pflegen wollen. Weil es uns am Herzen liegt.
  • Auf das, was wir leben wollen: unsere Träume, Ziele, Werte und Wünsche.
  • Auf jene Momente, in denen wir uns mehr Mut wünschen.
  • Wo wir so angenommen werden, wie wir sind. Wo wir geschätzt werden und dazugehören.

 

Was Verletzlichkeit bedeutet

Verletzlichkeit bedeutet nicht, dass wir schwach oder zerbrechlich sind, sondern vielmehr, dass es in unserem Leben Themen und Momente gibt, die besonders schützenswert sind. Wenn wir unsere Verletzlichkeit wahrnehmen, leise, behutsam, können wir mit ihr in Kontakt treten. Können wir bewusst entscheiden, wie wir mit ihr und mit uns umgehen. Wo wir sie respektieren, wo wir abwägen und entscheiden, was wir wagen: Ob wir unsere Türen geschlossen halten, sie einen Spalt weit öffnen oder uns mutig einlassen. Auf bestimmte Menschen. Auf eine bestimmte Sache.

Die Verletzlichkeit wird zu einem starken, intensiven Gefühl. Wie wenn im Auto die Motorwarnlampe hell aufleuchtet. Wenn Gefahr droht, wenn etwas passiert. Unweigerlich blicken wir blitzschnell auf den Auslöser und entscheiden oft sehr schnell, wie wir darauf reagieren.

Wenn es weh tut

Und wenn eine Erfahrung schmerzt? Wenn aus Verletzlichkeit eine Verletzung wird?
Schiebst du sie ins Unterbewusstsein? Suchst du nach Gründen und Rechtfertigungen für das Geschehene, setzt du dich immer wieder mit dem Schmerzauslöser auseinander? Verletzt du dich immer wieder selbst damit? Läufst du Lösungen im Außen hinterher? Oder stellst du dich der neuen Situation? Nimmst du dich und deine Bedürfnisse an? Kümmerst du dich um sie?

Körperlich tun wir genau das! Wenn du gesund bist und dir etwas Schmerzhaftes passiert, zuckst du zuerst zurück und wendest dich dann der verletzten Stelle zu. Kümmerst dich um das, was weh tut. Tust das Beste, was du jetzt tun kannst. Betroffene Stelle hochlagern, ein Pflaster drauf, ein kühlender Umschlag oder was sonst noch hilft. Was schon passiert ist, kannst du nicht mehr ändern.

Ist die Blutung gestillt, die Schwellung abgeklungen, lässt das Pochen nach, passt du noch immer auf. Auf die verletzte Stelle. Auf dich. Manchmal erinnert sie dich noch daran. Mit einem lästigen Brennen, Stechen oder Pochen. Erinnert dich daran, noch nicht alles so zu machen, wie du es gewohnt bist. Sondern aufzupassen! 

„Das nächste Mal passe ich besser auf.“, schwörst du dir oder beteuert dir derjenige, der dich unbeabsichtigt verletzt hat und dem du und dein Wohlergehen am Herzen liegen. Wie gut, wenn du jemanden hast, der dir hilft, der bei dir ist, wenn du verletzt bist.

Genauso ist es, wenn dich etwas persönlich innerlich trifft und schmerzt. „Au, das tut weh!“, schreckst du zurück. Um dich dann dir selbst und der verletzten Stelle zuzuwenden. Um vorsichtig deine verletzten Bedürfnisse unter die Lupe zu nehmen. Was kannst du jetzt am Besten tun? Was hilft jetzt? Was kann jemand für dich tun? Dich umarmen? Dich halten? Einfach tröstend da sein? Was schon passiert ist, kannst du nicht mehr ändern. Was du tun kannst, ist, dich zu schonen. Und aufpassen. Auf dich.

Echtes Mitgefühl, Zusammenhalt. Das ist es, was Wunden brauchen, um gut zu heilen. Verbinden, was getrennt ist. Bist du bereit, deine Gedanken, deine Gefühle und Bedürfnisse zu verbinden? Um zu stimmigen Handlungen in deinem Sinne zu kommen?

Was Verletzlichkeit braucht, um zur Kraft zu werden

Echtes Mitgefühl, Zusammenhalt. Einen vertrauten, schützenden Rahmen. Das ist es, was deine Verletzlichkeit braucht. Wo du dich öffnen kannst, Luft und Licht und Wärme in dich hineinlassen kannst. Wo du dich zeigen kannst. Wie leicht ist das, wenn du Menschen hast, die dir genauso offen begegnen. Die dir offen und wohlwollend begegnen und all dem, was dir wertvoll ist. So wird aus Angst dein Mut. Er wächst. So wird aus Unsicherheit dein Selbstvertrauen. Deine Bedürfnisse wachsen, gedeihen, blühen schließlich kraftvoll auf! Verletzlichkeit macht stark! Mit dieser Stärke, deiner Kraft, kannst du dann alles von dir zeigen! Du strahlst aus dir heraus!

Was macht das mit dir? Wenn du diesen Prozess, an dessen Anfang das Gefühl der Verletzlichkeit stand, mehrmals durchlaufen hast und schließlich im Sinne deiner Bedürfnisse gehandelt hast? Es erzeugt positive Erinnerungen, die als sinnvolle, freudvolle Lösungen in deinem Gehirn gespeichert werden. Griffbereit. Damit du in Zukunft immer wieder darauf zurückgreifen kannst.

Verletzlichkeit ist ein Hinweis auf die eigene Lebendigkeit und die Möglichkeit der persönlichen Entwicklung, wenn wir uns nicht wie mit Schmerzmitteln vorübergehend betäuben, sondern in unserem Sinne handeln.

💛 Wann hast du schon deine Verletzlichkeit in Stärke und Kraft verwandelt?

💛 Wo möchtest du gerne deine Verletzlichkeit in Kraft verwandeln?

Stefan und Irmgard Wallner – Foto von Danila Amodeo www.danilamodeo.com

In unseren Übungsabenden, mit unseren Freunden und ganz besonders in unserer Partnerschaft: Wir schätzen es so sehr, dass wir uns mit unserer Verletzlichkeit zeigen können. Dass wir uns offen und herzlich begegnen. Dass wir so weiter wachsen, gedeihen und aufblühen können.

Was gibt es Schöneres?

 

 

 

Beitragsfoto von gremlin von Getty Images Signature