Von Traumvorstellungen zur Realität: Ein Blick auf unsere engsten Beziehungen
Vom ersten Atemzug bis zum letzten Aushauchen begleitet uns ein zentrales Thema auf unserer Lebensreise: Beziehungen.
Jede Interaktion, jede Berührung, jedes Gespräch webt einen Faden im Netz unserer Verbindungen zu anderen.
„Ich kann mich nur in Beziehungen zu anderen wahrnehmen, weil alles Leben Beziehung ist. … Ich existiere nur in Beziehung zu Menschen, Dingen und Ideen, und indem ich meine Beziehung zu den äußeren Dingen und Menschen wie auch zu den inneren Dingen untersuche, fange ich an, mich zu verstehen.“
Jiddu Krishnamurti aus „Einbruch in die Freiheit“
Wir sind also in Beziehung zu allem, das um uns existiert.
Der Kampf zwischen Wunsch und Wirklichkeit in Beziehungen:
Unsere Beziehungen sind komplexe Gebilde aus Emotionen, Erfahrungen und Erwartungen. Manche Beziehungen erleben wir angenehm leicht, wohltuend tief und innig, weil alles übereinstimmt, weil wir harmonisch schwingen, während der Faden zu anderen einreißt oder Lücken klaffen zwischen dem, was wir uns wünschen, und dem, was tatsächlich ist.
Was also, wenn wir mehr mit unserer Idealvorstellung von der anderen Person verbunden sind als mit dem wirklichen Menschen? Was, wenn unsere Erwartungen, wie das Zusammenleben oder die Zusammenarbeit mit einer Person sein könnte, auf eine andere Realität treffen?
Wenn der Chef interessierter, wertschätzender, empathischer wäre. Wenn die Chefin uns mehr mitbestimmen lassen würde. Wie viel einfacher wäre dann alles! Wie das Zusammenleben mit einem wertschätzenden Partner sein könnte. Wie traumhaft schön das Leben dann wäre. Was aus unseren Kindern werden könnte, wenn sie das Beste aus sich herausholen, sich richtig entscheiden, das Richtige tun. Es ist so klar vorstellbar. Zum Greifen nahe. Sie müssten nur …
Es könnte so schön sein!
Diskrepanz zwischen Traumvorstellungen und der realen Erfahrung in Beziehungen
Geschwisterbeziehungen, Beziehungen zu Elternteilen, Beziehungen zu den eigenen Kindern und Enkelkindern, nachbarschaftliche Beziehungen, freundschaftliche Beziehungen, Arbeitsbeziehungen. Und da ist er wieder! Dieser unwiderstehlich attraktive Idealpartner. Was da alles möglich wäre! Was sich da alles entwickeln könnte. Während unser Gehirn hollywoodreife Drehbücher mit einem Klick schreibt und unsere Träume weit über die Grenzen unserer persönlichen Welt auf andere projiziert, wischt der andere in der Realität jegliche Vorfreude auf ein wunderschönes Miteinander mit seinem Verhalten mit einem Wisch weg. Der Sturz vom Himmel auf den Boden der Tatsachen verletzt, kränkt, wühlt auf. Fordert uns immer wieder aufs Neue emotional heraus.
Es könnte doch so schön sein!
Vielleicht gehörst du zu jenen, die sich wieder aufrappeln. Die die Kruste der vernarbten Verletzung vorsichtig von der Haut kletzeln. Sich abputzen. Du erinnerst dich an Vergangenes, an gemeinsame Momente des Wohlfühlens und nährst damit die Sehnsucht nach Verbindung und Verbundenheit mit Hoffnung.
Es könnte doch so schön sein!
Bis es wieder passiert und die Realität mit der Wunschvorstellung kollidiert. Und wir bitter erkennen müssen, dass es ist, wie es ist.
Unermüdlich probieren wir unzählige Wege, um unser Ziel zu erreichen. Wie wir mit dem anderen reden, wie wir mit ihm umgehen, damit es so schön wird wie in unserer Vorstellung. Schmerzhaft stellen wir immer wieder aufs Neue fest, dass das so nicht möglich ist. Egal, wie viel wir tun. Unabhängig davon, wie viel wir in diese Beziehung oder in diesen Menschen investieren. An Zeit. An Energie. An Gefühl. All die Anstrengung und Kraft den anderen dorthin zu bewegen, wo wir ihn genauso haben wollen, wie wir es uns vorstellen, bewegt ihn keinen Millimeter.
Dabei wäre es doch so einfach. So leicht. Sie müssten nur …
Was also tun?
Wahlmöglichkeiten im Umgang mit der Realität
„Der Panzer verdeckt die Wunde.“, wusste Adorno. Zurückziehen und hart werden, ist eine Wahlmöglichkeit.
Zurückgeworfen auf sich selbst die eigene Beziehung zu diesen Menschen unter die Lupe zu nehmen, ist ein andere Wahlmöglichkeit. Indem wir differenzieren, was die eigenen geistigen Gebilde, wie Traumvorstellungen, Erwartungen und Bewertungen von „wie es sein sollte“ sind und dem, was das tatsächliche, beobachtbare Verhalten unserer Mitmenschen ist.
Du bist enttäuscht? Weil DEINE täuschende Projektionswand zur Seite geschoben ist und den Blick frei macht auf das, was wirklich ist?
Danach kann es zwar noch immer vorkommen, dass wir nach bestimmten Handlungen anderer irritiert sind, traurig reagieren oder einfach bedauern. Aber es schmerzt nicht mehr. Tut nicht mehr so weh. Es ist, wie es ist.
Die möglichst objektive Beobachtung ist der Schlüssel zur Klarheit! Sobald sich unsere innere Gedankenwelt nicht mehr mit der äußeren Welt vermischt, wird die Sache leichter und die Beziehung klarer. Nur wer klar sieht, kann dann auch die für sich persönlich wichtigen Konsequenzen ziehen und im eigenen, wie auch im gemeinsamen Sinne stimmige Veränderungen vornehmen.
Spezifische Beziehungsarten und ihre Herausforderungen
Eine große Gefahr der Vermischung von Traum und Wirklichkeit und damit verbundener Enttäuschung besteht in der Partnerschaft, in den Beziehungen zu den erwachsenen Kindern und in Beziehung zu unseren Elternteilen.
Der Partner: Gemeinsame Träume, getrennte Wege?
In Partnerschaften träumen wir oft von einer tiefen Verbindung, in der beide Seiten gleichsam geben und nehmen. Gleichsam sich fragen, was sie für den jeweils anderen und für die Beziehung tun können. Sich wechselseitig wohltun und nähren. Füreinander da sind. An einem Strang in die gleiche Richtung ziehen. Miteinander Zeit genießen. Sich aneinander freuen.
Der kontinuierliche, wechselseitige Austausch persönlicher Wünsche und Träume kann dabei helfen, sich nicht unbeabsichtigt, weil unausgesprochen, voneinander zu entfernen.
Was aber, wenn sich die Wege tatsächlich schon lange getrennt haben und nur mehr die Fassade stehen geblieben ist? Was, wenn sich der andere herausgenommen, sein Engagement zurückgezogen hat, zwar noch gerne empfängt, sich aber sonst den eigenen Interessen zuwendet? Vielleicht sogar noch redet, mitträumt, verspricht und in Aussicht stellt. Vorfreude schürt, Hoffnungen weckt. Kleine Schritte in die scheinbar eingeschlagene Richtung setzt, um sich dann still und heimlich wieder davon abzusetzen und anders zu handeln als vereinbart? „Wir verstehen uns gut“ gilt nur, solange nicht erwartet wird, dass der andere seinen Teil zum Gemeinsamen beiträgt!
Besonders tragisch trifft es Partner, die in einer toxischen Beziehung verhaftet sind (Lies hier: Gewalt an Frauen auf den Punkt gebracht)
Auch dann ist die Beobachtung der Schlüssel zur Klarheit für sich selbst! Denn Taten zählen mehr als (versprochene) Worte!
Die lieben Kinder: unsere Hoffnungen, ihre Wege
Mit Kindern teilen wir manchmal tief verwurzelte Erwartungen. Doch ihr Verhalten kann von unseren Wünschen an sie stark abweichen. Da können wir uns noch so sehr daran erinnern, wie es war, als sie klein waren. An die vielen, kleinen und großen gemeinsamen Erlebnisse, die unser Herz mit Liebe, mit Rührung, mit einem fröhlichen Lachen füllen. Diese Verbundenheit mit jenen, die wir zur Welt gebracht haben. Für die wir so viele Jahre da waren. Feiern, Urlaube, lustige Erlebnisse, Verletzungen und Krankheiten, die gemeinsam durchgestanden wurden, von der Schulzeit und anderen schwierigen Phasen gar nicht zu reden! Wir haben es gemacht! In unserem besten Sinne! Nicht nur aus elterlicher Verpflichtung heraus! Da gilt es nun zu differenzieren!
Durch das, was wir für sie in ihrer Kindheit gemacht haben, was sie von uns bekommen haben, kann niemals eine Verpflichtung uns gegenüber entstehen, dies durch ein für uns wunschgemäßes Verhalten abzugelten. Sei es, dass sie für uns bestimmte Ziele erreichen sollen oder auf eine von uns bestimmte Art und Weise leben sollten. Nämlich so, wie wir es für gut und richtig und erfolgreich halten. Wir sind nicht die Regisseure im Leben unserer Kinder! Wir können aber zuschauen und Anteil nehmen.
Statt Erwartungen auf sie zu projizieren, können wir wohlwollend und interessiert beobachten, wie sie mit ihren Herausforderungen umgehen und welche Antworten sie auf ihr Leben geben. Ihr Lebensweg ist der ihre. Der Rollenwechsel vom einflussnehmenden Erziehenden hin zum rein Beobachtenden und Ratenden – wenn gefragt – bedingt auch einen Wechsel der persönlichen Wünsche an unsere erwachsenen Kinder.
Verbunden und frei sein. Wie schön, wenn das gelingt!
Eltern: Die Last alter Erwartungen
In der Beziehung zu unseren Eltern können alte Vorstellungen und Erwartungen die Gegenwart überschatten. Vieles hat Tradition, hat Geschichte und ist vielleicht noch immer nach all den Jahren durch den Wunsch und durch die Einflussnahme seitens der Eltern in der einen oder anderen Form tief eingeprägt. Das war über so viele Jahre die gelebte Praxis, hat sich in dieser besonderen Beziehung etabliert.
Um sich davon zu befreien, ist auch hier der erste und wichtigste Schritt: Wahrnehmen und sachlich Beobachten! Das, was von Seiten der Eltern kommt aber auch die eigenen automatisierten Reaktionen. Untersuche, was tatsächlich ist, wie es ist und was du im Geiste dazu vervollständigst und denkst. Auf welche ausgesprochenen oder unausgesprochenen, also von dir gedachten, Erwartungen springst du an? Trenne das Beobachtbare von deinen Gedanken!
„… und indem ich meine Beziehung zu den äußeren Dingen und Menschen wie auch zu den inneren Dingen untersuche, fange ich an, mich zu verstehen.“ Jiddu Krishnamurti
Umgang mit nicht erfüllenden Beziehungen
Manche Beziehungen werden nie das erfüllen, was wir uns wünschen. Wenn einem selbst immer die Rolle des Gebenden zugedacht wird und im Kontrast dazu unsere eigenen Wünsche und Vorstellungen an die andere Person unerfüllt bleiben, ist es Zeit im eigenen Sinne, quasi als Selbsthilfe, sich zum genauen Hinschauen auf den Beobachtungsposten zurückzuziehen.
Inmitten unserer täglichen Routinen und Sorgen tragen wir oft tief in uns Vorstellungen von idealen Beziehungen zu unseren Partnern, Kindern und Eltern. Wir träumen von einem harmonischen Miteinander, von bedingungsloser Unterstützung und endlosem Verständnis. Aber was, wenn unsere tiefsten Wünsche und die Realität weit auseinanderklaffen? Wie gehen wir damit um, insbesondere wenn wir uns in einer Einbahnstraßen-Beziehung wiederfinden?
In all diesen Beziehungen kann das Pseudogefühl entstehen, als Gebender ständig ausgenutzt zu werden, ohne dass von der anderen Seite ähnliches Interesse oder Engagement zurückkommt. Diese Dynamik kann zu Frustration, Resignation oder sogar Verbitterung führen. Es ist essenziell, sich zu fragen: Warum gebe ich so viel? Erwarte ich etwas im Gegenzug oder gebe ich bedingungslos?
Beobachten, Loslassen, Akzeptieren
Was wir also tun können, ist Traum von Wirklichkeit zu trennen und zu akzeptieren, was ist. So kann es dir gelingen:
- Was kannst du im Außen wahrnehmen und beobachten?
- Werde dir bewusst, was du alles nicht wahrnehmen und beobachten kannst, was du schlichtweg nicht gesichert weißt! Was dein Geist möglicherweise blitzschnell mit eigenen Vorstellungen ergänzt.
- Werde dir selbst bewusst, was sich in deinem Geist tut. Welche Erwartungen ihr Unwesen treiben. Unfrieden stiften. Erkenne deine Traumvorstellungen. Nimm Abschied von ihnen, lass sie los. Lass sie frei.
- Werde dir klar, welche deine Bewertungen sind: was gut (genug) und was schlecht ist. Was du richtig findest und was nicht. Wie jemand oder etwas sein sollte, damit es passt. Damit es für dich passt!
- Wenn der Kopf leergefegt ist von den Vorstellungen, steht dir nichts im Wege, klar nach außen zu sehen. Wahrzunehmen. Zu beobachten.
- Beobachte: Wie agiert die andere Person, wenn sie frei ist? Wenn ich sie frei lasse?
- Das Beobachtete anzunehmen. Es ist, wie es jetzt gerade ist. Nicht gut. Nicht schlecht. Es ist.
Das ist Akzeptanz.
Klar zu beobachten und dies von den eigenen Wunschvorstellungen zu trennen, sagt noch nichts darüber aus, was du dann damit machst!
Fazit
Objektive Beobachtung ermöglicht uns, die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit in unseren Beziehungen zu erkennen. Indem wir das tatsächliche Verhalten unserer Mitmenschen wahrnehmen und unsere Erwartungen anpassen, können wir Beziehungen leben, die auf Authentizität und zumindest gegenseitiger Akzeptanz basieren.
Es ist eine Reise, die manchmal auch ein schmerzliches Umdenken erfordert, aber sie kann letztendlich zu einem angenehmen inneren Frieden führen.
Schließlich können wir aktiv nur für unsere eigenen Wünsche uns selbst gegenüber einstehen. All das, was wir nach außen zu projizieren versuchen, wird langfristig scheitern, da wir es niemals in der Hand haben.
💛 Welche Erwartungen hast du an deine wichtigsten Beziehungen und woher stammen sie?
💛 Wie reagierst du, wenn deine Erwartungen in einer Beziehung nicht erfüllt werden?
💛 Wo könntest du Traum und Beobachtung trennen und mehr Akzeptanz in deinen Beziehungen üben, anstatt zu versuchen, Situationen oder Menschen zu verändern?
Wenn du magst, kannst du uns schreiben! Wir freuen uns darauf, von dir zu lesen!
Herzlichst
Irmgard und Stefan
Liebe Irmgard und lieber Stefan,
da trefft ihr voll ins Schwarze!
Ich habe auf Beobachten umgeschaltet. Trotz Vorfreude. Und bin beim Beobachten geblieben. Trotz Irritation. Ich hab mich da nicht abbringen lassen.
In den letzten Tagen hätte es viel Grund geben können, voll emotional zu werden.
Doch ich habe mich da nicht hineingelassen und bin beim Beobachten geblieben.
Der Lohn: ich habe neue Erkenntnisse gewonnen und dadurch ein ganz neues Bild von alten Geschichten, wiederholten Narrativen.
Wieso ist mir das nicht schon viel viel früher aufgefallen?
Jetzt fange ich langsam an zu verstehen.
Das macht was mit mir.
Sehr interessant.
Danke euch!
Liebe Grüße
Petra
Liebe Petra,
das freut mich sehr für dich!
Danke, dass du deine Erfahrungen mit uns teilst!
Alles Gute und liebe Grüße
Irmgard