Was passiert mit uns, wenn die virtuelle Welt so real wird, dass sie unsere Sicht auf die physische Welt nicht nur einfärbt, sondern regelrecht übermalt?

In Zeiten wie diesen müssen wir uns fragen, wie tief die digitalen Finger in den Teig unserer Meinungen, Überzeugungen und Wahrnehmungen greifen und diesen kneten. Kneten, formen, gestalten. Ich spreche von steilen Kluften in Bezug auf diverse Themen, die sich im Massiv unserer Gesellschaft gebildet haben und von den Algorithmen der sozialen Medien angeheizt und verfestigt werden.

Die Spaltung der Gesellschaft ist kein Phänomen, das ausschließlich durch soziale Medien oder das Internet entstanden ist. Vielmehr handelt es sich um einen sozialen Brennpunkt, der durch die digitalen Möglichkeiten eine neue Dimension an Intensität und Geschwindigkeit erhalten hat.

Der Ausgangspunkt liegt in der rein menschlichen Natur, Schlüsse zu ziehen, sich Meinungen zu bilden und sie in Gruppen auszutauschen.

Doch wie genau haben die neuen Informationstechnologien dieses archaische soziale System beeinflusst und in jüngster Zeit unterminiert?

Die Macht der digital personalisierten Information

Die Algorithmen hinter den sozialen Medien sind darauf ausgelegt, Inhalte zu liefern, die die Aufmerksamkeit des Nutzers möglichst lange an die Plattform binden. Dies geschieht durch die Anpassung des Informationsflusses an die persönlichen Präferenzen, die der Algorithmus aus dem bisherigen Verhalten des Nutzers ableitet. Die Folge ist eine Echokammer, ein Zustand, in dem der Einzelne nur noch mit Meinungen und Fakten konfrontiert wird, die seine bestehenden Ansichten verstärken und untermauern. Resonanzräume, in denen nur noch die eigene Meinung widerhallt. Alles andere wird gefiltert, ausgeblendet, als gäbe es es nicht. Was übrig bleibt, wird geglaubt, weil es einfach und bequem auf der Eitelkeit der eigenen „richtigen“ Meinung beruht. Die Suche nach der eigentlichen Realität und Wirklichkeit spielt keine Rolle mehr, ist nicht mehr relevant.

Die Trennung durch die Medienlandschaft

Hinzu kommt, dass die „alte“ Medienlandschaft teilweise einen unerbittlichen frontalen Meinungskrieg führt. Schauen wir über den Atlantik und nehmen wir als Beispiel die amerikanischen Nachrichtensender CNN und Fox News. Beide Sender haben sich längst, wenn auch auf unterschiedliche Weise, zu Sprachrohren bestimmter politischer Lager entwickelt. CNN tendiert zu einer liberaleren, demokratischen Perspektive, Fox News zu einer konservativeren, republikanischen.

So wird, ähnlich wie in der heutigen digitalen Echokammer, dem gespaltenen Zielpublikum der Sender nur das serviert, was der jeweiligen Ideologie entspricht und konform geht.

Die Interpretation von Fakten

Es ist faszinierend zu beobachten, wie unterschiedlich Fakten präsentiert werden können.

Jüngstes Beispiel: Election Tuesday 07.11.2023 in den USA

Fakten:                 Ohio:                                    Abortion rights:  Yes 56,6%     No 43,4%

Mississippi Governor:     Reeves (REP) 51,7%, Presley (DEM) 46,9%

Kentucky Governor:        Beshear (DEM) 52,5%, Cameron (REP) 47,4%

Während CNN in seinen ersten Stellungnahmen den Sieg der Demokraten bei der Gouverneurswahl in Kentucky und das Votum für den verfassungsrechtlichen Schutz des Abtreibungsrechts in Ohio hervorhebt und den Wahlausgang in Mississippi nicht erwähnt, konzentriert sich Fox News auf den Sieg der Republikaner bei der Gouverneurswahl in Mississippi und lässt das Ergebnis zum Abtreibungsrecht in Ohio, das gegen ihre Meinung stößt, völlig unter den Tisch fallen. Beide präsentieren Fakten, aber so gefiltert und interpretiert, dass sie die jeweilige Zielgruppe bestärken und in ihre politische Richtung lenken. Das Unerwünschte wird einfach ausradiert.

Die Filterblase und ihre Folgen

Die Filterblase ist ein Zustand, in dem ein Nutzer nur Informationen erhält, die seine bestehenden Überzeugungen bestätigen. Dies hat gravierende Folgen für die Meinungsbildung. An die Stelle von Perspektivenvielfalt und offenem Diskurs tritt eine Verhärtung der Standpunkte. Die Algorithmen, die unser digitales Erleben prägen, sind darauf programmiert, uns zufrieden zu stellen – und das bedeutet oft, dass kontroverse Darstellungen mit entsprechenden Erklärungen nicht mehr digital zu uns durchdringen. Eine frontenbildende Krebsgeschwulst wuchert.

Die Kommerzialisierung der Aufmerksamkeit

Hinter all dem steht ein kommerzielles Interesse. Die hohen Klickraten, die durch polarisierende und meinungsbildende Inhalte generiert werden, sind für Werbetreibende Gold wert. Dies führt dazu, dass Plattformen und Medienkanäle nicht daran interessiert sind, eine ausgewogene Meinungsvielfalt zu fördern, sondern vielmehr daran, die Nutzer möglichst lange zu binden und damit ihre Werbeeinnahmen zu maximieren.

Die gesellschaftliche Tragweite

Die Folgen dieser Entwicklungen dürfen nicht unterschätzt werden. Die Vertiefung der Gräben in der Gesellschaft wird durch das ständige Füttern von Einseitigkeiten begünstigt. Statt eines Konsenses vergrößert sich die Kluft zwischen unterschiedlichen Meinungen und Überzeugungen. Die vergangene Pandemie hat dies exemplarisch verdeutlicht: Die Meinungen über Tests, Impfungen und Maßnahmen teilten sich entlang von Linien, die durch algorithmisch gefilterte Informationsflüsse verstärkt wurden.

Was können wir tun?

Es ist essenziell, dass wir uns ALLE dieser Mechanismen bewusstwerden und aktiv gegensteuern. Ein Anfang ist, bewusst auch online nach Gegenmeinungen und unterschiedlichen Perspektiven zu suchen, um mit dieser neutralen und ausgewogenen Position diesen Algorithmen entgegenzuwirken.

Die natürliche menschliche Intelligenz muss am Ende stets über der künstlichen stehen.

Wir dürfen uns nicht zum willenlosen Gefolge der Werbe- und Konsumindustrie machen.

Diese Aufgabe obliegt nicht nur dem Einzelnen, sondern auch gesellschaftlichen Institutionen und Regierungsverantwortlichen. Die Schaffung von Transparenz über die Funktionsweise von Algorithmen und ihre Funktion ist eine notwendige Aufklärungsarbeit zum Schutz einer vielfältigen und demokratischen Gesellschaft.

Ein Appell an die Verantwortung

Was es braucht, ist eine gesellschaftliche Anerkennung der Problematik und den Willen, handfeste Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Regierungen und relevante Organisationen müssen sich mit der Frage auseinandersetzen, wie Meinungsvielfalt im Zeitalter digital dominierter Informationsströme geschützt und gefördert werden kann.

Denn ohne ein aktives und deutliches Gegensteuern droht der Verlust des gemeinsamen Diskurses, die Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts und letztlich eine Schwächung der demokratischen Grundfesten. Die politische Entwicklung in den USA in den letzten sechs Jahren ist ein mahnendes Beispiel für diese reale Gefahr.

Was wir noch tun können: Den Fokus ändern und Brücken bauen

Dazu kannst du die 4 Schritte der Gewaltfreien Kommunikation anwenden.

Schritt 1: Richte deine Aufmerksamkeit weg von den Meinungen und hin zu den beobachtbaren Fakten. Mache dir ein möglichst neutrales und umfassendes Bild von der Situation. Es kann sein, dass die Polarisierung zwar laut proklamiert wird, aber in dieser Form (noch) nicht existiert. Dass es um unsere Gesellschaft nicht so schlecht bestellt ist, wie marktschreierisch verkündet. Siehe beispielsweise Triggerpunkte von Steffen Mau, Thomas Lux, Linus Westheuser (Suhrkamp Verlag)

Schritt 2: Wende jetzt deine Aufmerksamkeit von außen nach innen. Schau in dich hinein: Wie fühlst du dich in Bezug auf die aktuelle Situation? Mache mit Hilfe der sprache-verbindet Gefühlskarten einen 360°-Scan und nimm all deine Gefühle dazu wahr! Es macht einen Unterschied, wenn nicht nur das Unsichere, sondern auch das Hoffnungsvolle aufgespürt wird. Und noch viel mehr!

Nachdem du mit den Beobachtungen den Status quo im Außen und mit der Wahrnehmung deiner Gefühle den Status quo in deinem Innen festgestellt hast, geht es um deine Ausrichtung für die Zukunft!

Schritt 3: Dein innerer Kompass sind deine Bedürfnisse! Auf welche Bedürfnisse weisen deine Gefühle hin? Was ist dir jetzt und für die Zukunft wichtig? Welche Bedürfnisse haben im Moment den größten WERT?

Schritt 4: Was möchtest du dafür tun?

Was sind deine aktiven Beiträge für eine gute Zukunft? Tag für Tag. Begegnung für Begegnung. Dazu zählen auch die Kontakte in und mit der digitalen Welt!

Dieser Artikel ist eine Einladung zum Dialog, zum Reflektieren und zur bewussten Auseinandersetzung mit der Art und Weise, wie wir Informationen aufnehmen und verarbeiten. Es geht um mehr als den nächsten Klick – es geht um die positive Gestaltung unserer einzigen gemeinsamen Wirklichkeit, um den Erhalt einer Gesellschaft, die trotz aller Unterschiede zusammenhält und sich gemeinsam weiterentwickelt.

💛 Hast du schon einmal das Phänomen der „Echokammer“ erlebt?

💛 Wie leicht oder schwer fällt es dir, Andersdenkenden zuzuhören? Und sie mit ihren Bedürfnisse wirklich zu verstehen?

💛 Welche Bedürfnisse sind dir in Bezug auf unsere gemeinschaftliche Zukunft besonders wichtig?

Wenn du magst, kannst du uns schreiben! Wir freuen uns darauf, von dir zu lesen!

Stefan und Irmgard Wallner, Foto von Danila Amodeo

Herzlichst
Irmgard und Stefan